Theologische Aussagen sind kulturbedingt

Unsere Auslegungen der Bibel sind immer kulturbedingt, darum relativ. Mathematiker und Physiker wissen das in Bezug auf ihre Wissenschaften. Theologen haben oft Schwierigkeiten, die Kulturbedingtheit ihrer Aussagen zu erkennen. Sie merken das erst, wenn sie mit afrikanischen oder chinesischen Theologen konfrontiert werden. Diese bauen ihre eigene Kultur in die Theologie ein (Beispiel: das Verhältnis zu den Ahnen).

Wer seine eigene Kulturbedingtheit erkennen will, muss nur an einer ökumenischen Debatte teilnehmen. Er wird trotz des guten Willens der Beteiligten erfahren: Es ist manchmal unmöglich, dass die Diskussionsteilnehmer in einem Bibeltext das Gleiche lesen. Wer das nicht weiss, wird an ökumenischen Debatten nichts als Frustration erleben.

Darum sind theologische Debatten – zum Beispiel zwischen Immigrationskirchen und unseren Landeskirchen über das Verhältnis von Kindern zu Eltern oder zwischen Orthodoxen und Reformierten über das weibliche Pfarramt – nicht auflösbar. Daher braucht es eine interkulturelle Theologie, die weiss, dass kulturbedingte Differenzen erst dann (vielleicht!) aufgelöst werden können, wenn wir die Differenzen als kulturbedingt erkennen.

In Bezug auf die Immigrationskirchen ist das umso wichtiger, als möglicherweise diese Kirchen das Vehikel sind, durch das das Christentum in Europa überleben wird. Es gibt in Deutschland und in der Schweiz hunderte von lebendigen afrikanischen, koreanischen und brasilianischen Kirchen. Sie gehören zum Typ des mündlichen Christentums. Viele von ihnen wollen kritische Theologie lernen.

Einige von ihnen waren meine Doktoranden. Darum weiss ich, was für eine interessante, aber schwierige Aufgabe uns diese ökumenische Begegnung stellt – für beide Partner. Sie gelingt nur, wenn der akademische Lehrer sich nicht nur als Lehrer, sondern auch als Schüler eines ihm fremden Christentums versteht. Für mich jedenfalls muss ich sagen, dass ich von meinen Studenten mehr gelernt habe als von irgend jemand sonst.

1:  Kommentar von Robert Lau – 13.12.2008
 
Artikel aus der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 13. Dezember:
„Jeden Tag 23000 Christen mehr in Afrika“
Soziologe Joas sieht in Modernisierung nicht zwingend den Abschied von Religion

epd/KNA TÜBINGEN. Das Christentum breitet sich derzeit weltweit intensiver aus als je zuvor. Auf diese Beobachtung von Religionsstatistikern hat der Soziologieprofessor Hans Joas bei einem Vortrag in Tübingen hingewiesen. Schätzungen zufolge wachse allein in Afrika die Zahl der Christen täglich um 23000. Die Frage, ob das Christentum überleben werde, ist nach Joas‘ Überzeugung daher im weltweiten Maßstab „absurd“.
Auch die Prognose, nach dem Ende des Kolonialismus würden sich die in die Unabhängigkeit entlassenen Ländervom Christentum abwenden, habe sich nicht bestätigt: „Das Gegenteil ist eingetreten.“ Inzwischen sei fast jeder zweite Afrikaner Christ. Zum starken Wachstum des Christentums trügen auch hohe Geburtenraten in christlichen Ländern wie Brasilien, den Philippinen oder Uganda bei. Von den weltweit 6,7 Milliarden Menschen gehören mehr als 2,1 Milliarden einer Kirche an. Für widerlegt hält der Soziologe die These, dass mit der Modernisierung einer Gesellschaft auch notwendigerweise ein Abschied von der Religion einhergehe. Länder wie die USA oder Südkorea zeigten, das Wirtschaftswachstum und technisch-wissenschaftlicher Fortschritt sogar von einer zunehmenden Religiosität begleitet sein könnten.
Derweil erklärte der evangelische Menschenrechtsexperte Thomas Schirrmacher, christliche Missionsarbeit sei nicht verantwortlich für die jüngsten Ausschreitungen in Indien und andernorts. Weltweit seien rund 200 Millionen Christen durch Gewalt bedroht, sagte er im Interview der „Welt“.
Die größten „Verfolgungstragödien“ etwa in China, Nordkorea und dem Irak hätten nichts mit der Tätigkeit von Missionaren zu tun. Bei Katholiken und liberalen Protestanten habe der „postkolonialistisch anmutende weiße Missionar“ längst ausgedient.

2: Kommentar von Christof Haverkamp
 
Umgekehrte Mission
Statistiken zum kirchlichen Leben in Europa und Deutschland können den Eindruck vom Niedergang des Christentums
vermitteln: weniger Taufen und leere Kirchen und gleichzeitig vielerorts Kürzungen, Streichungen, Fusionen. So mancher pessimistische Beobachter stimmte daher schon das Klagelied vom Verfall an und wer ganz schwarzmalen wollte, äußerte sogar die Befürchtung, bald werde der Kontinent von einem militanten Islam beherrscht.
Doch diese düsteren Visionen einer aussterbenden christlichen Weltreligion sind aus einem verengten Blickwinkel entstanden, der die weißen Europäer im Zentrum und den Islam ausschließlich negativ sieht.
Diese Einschätzungen stimmen kaum mit der Wirklichkeit überein, wie der Soziologe Hans Joas oder der US-amerikanische Professor Philip Jenkins zu Recht bemerken. Unterschätzt wird zum Beispiel, wie sich die Globalisierung auf die Religion auswirkt. Sie führt dazu, dass Protestanten und Katholiken aus Afrika, Asien und Osteuropa in großer Zahl nach West- und Mitteleuropa strömen.
Diese Einwanderer werden auf Dauer auch das Christentum im Westen verändern – eine Art Missionierung also in umgekehrter Richtung und eine nicht immer leichte Herausforderung für den Westen.
c.haverkamp@neue-oz.de